AStA der Medizinischen Hochschule Hannover

„Wahrheit und Wissenschaft“ – Gedanken zur Veranstaltung

Vergangenen Mittwoch lief um 18:30 Uhr im Wohnzimmer die zweite Veranstaltungsreihe „Philosophie und Medizin“ an; den Auftakt gab an diesem Abend Dipl.-Soz. Stephanie Beyer mit einem Vortrag zum Thema „Wahrheit und Wissenschaft“, nachdem Marcel Mertz einen Überblick über verschiedene Wahrheitstheorien aus der Philosophie gab. 

Zunächst ein theoretischer Überblick…

Frau Beyer begann ihren Vortrag über ihre Dissertation mit der Vorstellung einer soziologischen Theorie des Soziologen und Sozialphilosophen Pierre Bourdieu, der im 20. Jahrhundert gelebt hat. Bourdieus Theorie beschreibt Gesellschaften als einen sozialen Raum, der in autonomisierte Teile, sogenannte soziale Felder, unterteilt sei. Solche Felder sind zum Beispiel Politik, Wissenschaft und Kunst. Unterschiedliche Felder hätten verschiedene Autonomiegrade, Logiken, Kapitalarten und eigene Interessen. Außerdem gebe es „oben“ in dieser Gesellschaft auch noch ein Meta-Feld; ein Feld der Macht, was nur einen Teil der anderen Felder berühre.

Frau Beyer hat sich näher mit dem sozialen Feld der Wissenschaft beschäftigt: In Anlehnung an Bourdieus Theorie stellte sie das wissenschaftliche Kapital vor. Dies sei definiert durch die Anerkennung durch andere Feldteilnehmende für erfolgreiche Arbeit, wissenschaftliche Autorität, Sichtbarkeit sowie die Anzahl an Publikationen. Symbolische Macht hätten hierbei all jene Feldteilnehmenden, die viel Kapital haben. Sie seien in der Lage, soziale Kategorien zu realisieren und die Realität zu formen. Dies bedeute in diesem Kontext das Bestimmen der legitimen Definition von Wissenschaft. Dabei sei auch eine antiökonomische Ökonomie von Bedeutung: Die Feldteilnehmenden müssten Uneigennützigkeit vorweisen, und dürften somit ihre persönlichen Interessen nicht zeigen; nicht Prestigeverfolgung sei das Ziel, sondern die reine Wissenschaft – zumindest der Öffentlichkeit gegenüber. Jedoch sei dies nicht realitätsgetreu, denn innerhalb des wissenschaftlichen Feldes müsse die vollendete Arbeit auch für die anderen Feldteilnehmenden interessant sein. Soziale Felder seien unter der Vorstellung, das jeweils bestmöglichste zu schaffen, konstruiert.  Mit dieser Vorstellung entstünde ein Kampf um die wissenschaftliche Autorität, welcher in besonderem Maße an Universtäten ausgetragen würde. Die wissenschaftliche Wahrheit stelle eine Form von konsensualer Konstriktion durch konsensuale Anerkennung dar: ein wissenschaftlicher Fakt sei (erst) dann einer, wenn er als solcher anerkannt worden sei. 

Standortwechsel: Wie sieht das Wissenschaftsfeld auf der anderen Seite des Atlantiks aus?

Diese Überlegungen brachten Frau Beyer in die USA, wo sie sich im Zuge ihrer Dissertation im mit dem dortigen Wissenschaftsfeld beschäftigte, indem sie die beiden Disziplinen Chemie und Soziologie an über 100 Universitäten betrachtete. Unter anderem beschäftigten sie folgende Fragen: Wie ist die soziale Konstruktion von Eliten in diesem Wissenschaftsfeld und wie wird sie wahrgenommen? Wie ist das wissenschaftliche Kapital zwischen den Universitäten verteilt? Welche Unterscheidungen gibt es in den Narrativen? Wie ist die strukturelle Macht verteilt? Frau Beyer betrachtete Faktoren wie z.B. das Hochschulranking, das Prestige der Wissenschaftler*innen, die Teilnahme an bestimmten politischen Gremien, Anzahl der Publikationen und Zitationen, Menge der Fördermittel und Patentbeantragungen. Hieraus entwickelten sich drei Cluster innerhalb dieses wissenschaftlichen Feldes, die beinahe keine Berührung mit dem jeweils anderen Cluster aufwiesen. 

Charakterisierung der Cluster

Das linke Cluster nannte Frau Beyer die dominierten Massendepartements: die Universitäten wiesen ein niedriges Ranking vor, wenig Drittmittel und wenig Publikationen. Ihr Forschungsschwerpunkt lag auf angewandten Projekten, sowohl in Chemie als auch in Soziologie.

Das mittlere Cluster hatte auf den ersten Blick keine weiteren Besonderheiten vorzuweisen, die Universitäten schnitten in allen berücksichtigten Faktoren mittelmäßig ab.

Das rechte Cluster und somit die verbleibenden 10% der Universitäten nannte Frau Beyer die etablierte Elite: Hier tummelten sich die alten Bekannten wie Harvard, Stanford & Co. Universitäten mit top Rankings, vielen Fördergeldern, Zitationen, Publikationen und hochkarätigen Wissenschaftler*innen. Der Forschungsschwerpunkt lag hier im Theoretischen. Ein Aspekt ist Frau Beyer in diesem Cluster jedoch außerdem aufgefallen: viele Feldteilnehmende hatten engen Kontakt zum Meta-Feld, zum Feld der Macht: sie waren in politischen Gremien vertreten und übernahmen Beratungsfunktionen; entschieden mit, wohin Fördergelder fließen. Hierbei waren Wissenschaftler*innen der Chemie häufiger in diesen Gremien vertreten als solche der Soziologie.

Subjektive Narrative als Momentaufnahmen aus den einzelnen Clustern

Nachdem diese allgemeinere Herangehensweise abgeschlossen war, führte Frau Beyer qualitative Interviews durch. In ihrem Vortrag führte sie drei Zitate aus den drei Clustern auf, die hier in ihrer Essenz angesprochen werden sollen.

Ein/e Feldteilnehmer*in aus dem Feld der Elite sagte aus, dass Wissenschaft eine Form von Macht sei, und dass dies auch ein Grund sei, Wissenschaft zu betreiben. Hierbei spiele auch Macht über andere Personen eine Rolle und das gute Gefühl, wenn man höre: „Da hattest du recht. Das hast du richtig gemacht“. Die Wissenschaftler*innen wollten ihre Art des Verstehens durchsetzen, und wenn dies einmal geschehen ist, so sei das ein unglaublich belohnendes Gefühl.

Ein/e Feldteilnehmer*in aus dem mittleren Cluster erfuhr in ihrem Arbeitsumfeld enormen Publikationsdruck: Es würden Ergebnisse veröffentlicht, auch wenn sie falsch waren, nur um der Publikation willen. Daraufhin würden mit einer nächsten Publikation die Fehler der vorherigen berichtigt. Dies sei ein normaler Prozess und würde oft praktiziert werden

Ein/e Feldteilnehmer*in aus einem dominierten Massendepartement sprach eine selbst erfahrene Ungerechtigkeit an: Die Wissenschaftler*innen aus den Elite-Universitäten hätten demnach einen verhältnismäßig geringen Publikationsdruck. Es gebe nämlich eine Ungleichbehandlung von Wissenschaftler*innen bei gleicher Publikationszahl. Weiter unten gerankte Wissenschaftler*innen müssten härter arbeiten als höher gerankte.

Frau Beyer kommentierte diese Narrative wie folgt: Vor allem im mittleren Cluster sehe man allgemein, abgesehen von diesem Kommentar, einen immensen Publikationsdruck, der mit einem Druck, nach oben zu kommen und in das höhere Cluster zu gelangen, verbunden sei. Die dominierten Massendepartments gerieten jedoch nicht so sehr unter Druck und würden sich auf ihre angewandte Wissenschaft konzentrieren, weil die Elite so weit weg und diese erreichen zu wollen unrealistisch sei. 

Wie soll die Zukunft des Wissenschaftsfeldes aussehen?

Dann fand der Vortrag von Frau Beyer ein Ende – und ich war empört. Wenn diese Ergebnisse wirklich stimmen sollten, dann ist das ein trauriges Zeugnis für die Wissenschaft. Als Studierende der Humanmedizin, die vielleicht auch einmal wissenschaftliche Forschung betreiben wird, habe ich mich durch diesen Vortrag nicht ermutigt gefühlt, dieses Berufsfeld anzustreben. Vielmehr war und bin ich sauer. Wie kann es denn sein, dass Prestige und Macht und die Sorge um Fördermittel über der Sorge stehen, gute Wissenschaft zu betreiben? Das führt mich zu der Frage, ob denn unter solchen Zuständen überhaupt noch gute Wissenschaft möglich ist. Wird nicht der Fokus von der „wahren“ Wissenschaft immer weiter weggerückt, wenn es nur noch um Publikationszahlen, das eigene Ego und Fördermittel geht? 

Diese Frage habe ich gestellt, und eine leider nicht zufriedenstellende Antwort bekommen. Ein Mitarbeiter der MHH reagierte ebenso empört wie ich; nur dass er sich wohl auch persönlich angegriffen fühlte. Denn er merkte an, dass ihm in dem Vortrag von Frau Beyer für ihn wesentliche Elemente, was die Motivation zur Wissenschaft betrifft, fehlten. So seien die Faktoren, die Frau Beyer angesprochen hatte, maßgeblich von extrinsischer Natur. Das von Frau Beyer gezeichnete Bild sei deshalb unvollständig. Der Mitarbeiter postulierte, vor 30 Jahren seien die Bedingungen noch anders gewesen. Die intrinsische Motivation, wie z.B. die Freude an der Entdeckung, sei nicht besprochen worden. Bei dieser Anmerkung frage ich mich, warum denn die intrinsische Motivation der Wissenschaftler*innen nicht rübergekommen ist. Möglicherweise, weil die extrinsischen Faktoren alle intrinsischen verdrängt haben und die dargelegten Verhaltensweisen auf einen Verteidigungsmechanismus schließen lassen, der nötig zu sein scheint, um in diesem Feld überleben zu können.

Natürlich sind dies Spekulationen meinerseits. Um diese zu überprüfen, müsste man weitere Forschung betreiben.

Eine andere Zuschauerin adressierte Folgendes: In einem sozialen Feld würden die Themen verschoben werden, das sei ein normaler Prozess der Wissenschaftlichkeit. Man müsse darauf achten, dass immer öfter ein aufgeladener Wahrheitsbegriff in die Debatte geworfen werde.

Doch wer sorgt dafür? Wieder gab es kaum Antwort. Eine Person forderte, wir Studierenden müssten selbst in Aktion treten und die Dinge anders machen, z.B. wenn wir selbst einmal eine Doktorarbeit schreiben. Doch ich frage mich: Wie soll uns so etwas möglich sein? Als junge Studierende, die irgendwann einmal ganz unten in der Hierarchie dieses Feldes stehen, ist es uns kaum möglich, die Abläufe und Regeln des Feldes zu ändern, so sehr wir uns das vielleicht auch wünschen und es versuchen. Wir werden, wenn wir in dieser Position sein sollten, immer mit Gegenwind rechnen müssen; mit der Aufforderung, nicht alles durcheinander zu bringen, sondern die Dinge einfach so zu tun, wie sie schon immer getan worden sind. Wenn jemand, oder besser eine ganze Gruppe, aus dem Meta-Feld dieses sozialen Feldes, aus der „Chefetage“ der Forschung, nicht jetzt sein Handeln verändert, wie sollen sich dann die Regeln innerhalb des Feldes ändern? 

Folgende Bemerkung eines Zuschauers stützt meine These: Wie werden die zukünftigen WissenschaftlerInnen sozialisiert? Wie wird ihnen die Forschung gelehrt? Mit den Regeln, die jetzt bestehen? Mit Druck, ja gute Ergebnisse in der Doktorarbeit zu liefern, bei einer Präsentation ja nur die besten Ergebnisse, Graphen und Diagramme zu präsentieren? Kein Wunder, dass bei so einem Verhalten oben genannte Narrative zustande kommen.

Wir sind selbst gefragt!

Mir ist klar, dass meine Beschreibung bis jetzt sehr absolut war. Die Wirklichkeit sieht zum Glück nicht so extrem aus; es gibt viele Wissenschaftler*innen, die sich dieses Problems bewusst sind und sich für ein besseres Arbeitsklima einsetzen. Mir ist auch bewusst, dass ich in dieser Darstellung von einem absoluten Wahrheitsanspruch ausgegangen bin, der unrealistisch ist: Macht ist ein Teil der Wissenschaft. Das liegt in der Definition der Sache. Sobald ich etwas weiß und mein Gegenüber nicht, entsteht eine Diskrepanz zwischen uns, die man auch als Machtgefälle bezeichnen kann. Es geht mir aber darum, wie ich mit dieser Macht umgehe und wem gegenüber ich sie zu welchem Zweck ausübe. Wie viel Bedeutung gebe ich dieser Macht? Ist sie Gegenstand meines alltäglichen Handelns? Um mir diese Fragen beantworten zu können, muss ich in ständigem Gespräch mit mir selber sein und mein Handeln reflektieren. Wenn ich das nicht tue, entstehen Situationen wie die oben beschriebenen. Und solange diese Situationen entstehen, ist die beschriebene Auseinandersetzung eine notwendige im Feld der Wissenschaft. 

/s