AStA der Medizinischen Hochschule Hannover

2-Klassen-Medizin

„Ich werde nicht zulassen, dass Erwägungen von Alter, Krankheit oder Behinderung, Glaube, ethnischer Herkunft, Geschlecht, Staatsangehörigkeit, politischer Zugehörigkeit, Rasse, sexueller Orientierung, sozialer Stellung oder jeglicher anderer Faktoren zwischen meine Pflichten und meine Patientin oder meinen Patienten treten.“

Deklaration von Genf; 68. Generalversammlung des Weltärztebundes


Der Begriff „Zweiklassenmedizin“ ist ein gutes Beispiel, um das Phänomen der „Buzzwords“ zu illustrieren. Jeder springt darauf an, es ist Gegenstand vieler Diskussionen und hervorragen zur Phrasendrescherei geeignet. Kein Wunder, dass er auch in der Regierungspolitik genutzt wird. Und obwohl die Bezeichnung häufig gebraucht wird, z.B. mit ärgerlichen Unterton, wenn jemand anderes aus dem Wartezimmer bei der*dem Hausärztin vor uns aufgerufen wird, ist selten klar, was wir eigentlich meinen, wenn wir von Zweiklassenmedizin sprechen.

Als Orga-Team der Podiumsdiskussion haben wir uns die Frage gestellt, was wir darunter verstehen und möchten euch unsere Gedanken als eine Hinführung und Einordnung, vielleicht auch als Anregung, anbieten, damit wir – zumindest heute Abend – über die gleiche Sache sprechen.

Anstatt von einer Zweiklassenmedizin sollte man lieber von einer Mehr- oder Vielklassenmedizin sprechen. Denn während die geläufigste Assoziation auf den Status als Privat- bzw. Kassenpatient abhebt, gibt es weitaus mehr und v.a. krassere Diskriminierungen, die zu eigenen „Klassen“ führen.

Folgende Aspekte lassen sich unterscheiden

  • Ökonomische
  • Sozial
  • Gender
  • Ethnische
  • Bildungsstand
  • Krankheitsspektrum/ -entität

Ökonomische

Unter dem ökonomischen Aspekt ist der Versicherungsstatus in den folgenden Abstufungen zu verstehen: nicht-versichert, nicht-versichert mit anonymen Krankenschein (so es ihn denn gibt), gesetzlich versichert, privat versichert.

In Deutschland herrscht eine Kranken- und Sozialversicherungspflicht, der zum Trotz 80.000 (entspr. 0,1% der Bevölkerung) Menschen nicht krankenversichert sind. Die Gründe dafür sind sicher vielfältig. Besonders häufig sind aber Selbstständige bzw. ehemals Selbstständige in dieser Gruppe vertreten. Neben den rein finanziellen Hürden sich als nicht-Versicherter in ärztliche Behandlung zu begeben, ist ein solcher Versuch mit einer besonderen Schmach verbunden.

Auf Initiative des Medi-Netzes in Göttingen wurde im November 2015 in Niedersachsen der Anonyme Krankenschein eingeführt (und Ende 2018 auf Initiative der CDU wieder eingestellt). Mit dem anonymen Krankenschein konnten sich nicht-Versicherte, v.a. diejenigen mit Migrationshintergrund und häufig illegalisierte Menschen behandeln lassen. An dieser Stelle wird auch die Position der Ärztinnen und Ärzte wichtig. Sie unterliegen als Behandler*innen selber, wenn auch anders ausgeprägt, ökonomischen Zwängen und sind auf Kostenerstattungen angewiesen. Der Anonyme Krankenschein stellte gegenüber dem Status als nicht-Versicherte einen Anreiz zur Behandlung dar. Aber auch der Anonyme Krankenschein konnte mit einer zusätzlichen Stigmatisierung einhergehen. Insbesondere aufgrund der Assoziation mit illegalisierten Menschen kann es zu vorurteilsgeprägten Falschurteilen kommen.

Angesichts der Versorgungssituation der „Klasse“ der nicht-Versicherten können die Unterschiede zwischen Privat- und Kassenpatient*innen an Bedeutung verlieren. Zumindest für den*die neutralen Beobachter*in. Für den*die einzelne Patient*in ist jede Abweichung in Art und Umfang der Behandlung relevant. Wie kommen diese Unterschiede zustande?

Die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung(en) (GKV) werden vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) beschlossen. Alle Leistungen, die eine GKV darüber hinaus anbietet, sind „Werbungskosten“ und werden aus dem krankenkasseneigenen, d.h. unternehmenseigenen Mitteln, gezahlt. Die vom G-BA beschlossenen Leistungen werden aus dem sog. Gesundheitsfond bezahlt, in den alle GKV einzahlen, um ungleiche Belastungen durch unterschiedliche Zusammensetzungen der Mitglieder auszugleichen.

Die privaten Krankenkassen (PKV) arbeiten nach einem Wahl-Leistungs-Prinzip. D.h. man kann den Umfang des Versicherungsschutzes wahlweise aufstocken oder reduzieren. Der Basistarif aber entspricht mindestens dem vom G-BA beschlossenen Katalog. Typische Mehrleistungen der PKVn sind die Übernahme für Zahnbehandlungen, Individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) sowie nicht zwangsläufig behandlungsrelevante, d.h. medizinisch indizierte, Rahmenbedingungen des Krankenhausaufenthalts wie z.B. eine Unterbringung im Einzelzimmer.

Da eine ausschließlich Private Krankenversicherung Selbstständigen und Menschen mit einem Mindesteinkommen von jährlich 56.250€ vorbehalten ist, werden GKV-Patientinnen private Zusatzversicherungen angeboten, die ihnen – gegen einen entsprechenden Beitrag – die Wahl weiterer Leistungen zusätzlich zu ihrer bestehenden Versicherung erlauben.

Das Wahl-Leistungs-Prinzip und das gesetzlich festgeschriebene Mindesteinkommen betonen bereits die ökonomische Komponente und lassen Unterschiede zu Gering(er)verdienenden deutlich werden.

Während das GKV-System streng solidarisch organisiert ist, können sich diejenigen, die es sich leisten können, sich privat zu versichern, von dieser Solidarität freikaufen. Problematisch daran ist, dass damit ausgerechnet diejenigen, die besonders solidarisch wirksame Beiträge leisten könnten/müssten, sich dem System entziehen. Dem wird gegenübergestellt, dass die Privatversicherten das Gesundheitssystem mit den deutlich teureren, da vervielfachten Abrechnungssätzen querfinanzieren würden. Diese Aussage ist aufgrund der Komplexität des Abrechnungswesens schwer eindeutig zu bestätigen bzw. zu falsifizieren. Tatsache ist, dass einige Leistungen mit den privaten Versicherern mit einem Faktor von bis zu 3,5 abgerechnet werden können. Dieser Umstand kann entsprechend Versicherte für Ärztinnen attraktiver machen, wodurch es zu medizinisch nicht gerechtfertigten Bevorzugungen im Praxisablauf kommen kann.

Unabhängig davon, ob tatsächliche eine Querfinanzierung durch die privat versicherten Patient*innen besteht und diese – so die Steigerung der These – das Gesundheitssystem vor dem Kollaps schützt – oder nicht, die Grundkonzeption eines solidarischen Systems, dem sich besonders Vermögende entziehen können, führt zu Barrieren und teilt in „Klassen“. Zum Beweis sei das inzwischen stark ausgeprägte „Klassenbewusstsein“ vieler Privatpatient*innen angeführt.

Soziale

Wir sind es gewohnt, in Schubladen zu denken. Wer einen Anzug und Krawatte oder eine Kostüm trägt, verdient viel Geld und ist respektabel. Ganz im Gegensatz zu ungepflegt wirkenden Menschen, die wir als „Penner“ oder „Schmarotzer*in“ im besseren Fall auch nur als „unangepasst“ bezeichnen und vorbehaltlos duzen.

Respektablen Patient*innen gestehen wir gern Schmerzen und entsprechende Schmerzmittel zu, während sich „die Anderen“ nicht so anstellen sollten und tendenziell ohnehin selber Schuld an allem sind. Verdeutlichen lässt sich das an Patient*innen, die, stark alkoholisiert, im Rausch gestürzt sind und sich verletzt haben. Diese Patient*innen zu behandeln ist nicht immer angenehm, trotzdem darf die Behandlung nicht schlechter ausfallen, als die anderer Patienten.

In unser Urteil über solche unliebsame Patient*innen geht die Ätiologie nicht ein. Dabei ist längst belegt, dass Armut und Arbeitslosigkeit krankmachen. Bei der Betrachtung einer Vielklassenmedizin sollte deshalb nicht nur die Versorgung von sozial schlechter gestellten Menschen sondern auch die Krankheitsentstehung, -verteilung und -prävention berücksichtigt werden.

Menschen ohne festen Wohnsitz haben selten eine*n Hausärzt*in, lassen sich seltener Impfen und haben nur eingeschränkte Möglichkeiten Vorsorgemaßnahmen wahrzunehmen.

Krankheitsspektrum/-entität

Patient*innen mit psychiatrischen oder psychosomatischen Erkrankungen werden häufiger gegenüber „wirklich“ Kranken abgegrenzt. Ihnen wird ihr Leid, da es ja „nur psychisch“ – und damit dem Glauben vieler zufolge eingebildet – ist, abgesprochen. In einer funktionsorientierten Gesellschaft mit einer entsprechend ausgerichteten Medizin ist kein Platz für Operationen nicht zugänglicher Erkrankungen bzw. Menschen, die unter solchen Erkrankungen leiden.

Deutlich wird dies auch an der hohen Zahl schizophren grunderkrankten Menschen, die auf der Straße leben.

Ein anderes Beispiel sind Suchterkrankungen, insbesondere Alkoholabhängigkeit. Das Problem lallender, vollgekotzter und stinkender Alkoholiker mit Z.n. Sturz in der Notaufnahme besteht ja nicht primär in dem Sturzereignis. In vielen Fällen nicht einmal in der Sucht, sondern in dem Umstand, der zur Sucht geführt hat. Dieser lässt sich in der Notaufnahme nicht adressieren, wird aber auch darüber hinaus von dem Gesundheitssystem respektive der Gesellschaft nur mit einer Herabstufung in eine niedrigere „Klasse“ begegnet.

Gender

Gender-Diversity als Begriff für das soziale Geschlecht bzw. für die Vielfalt der Geschlechter kann man ohne weiteres als weiteres Beispiel für „Buzz-Words“ anführen. Im Kontext einer Vielklassenmedizin beschreibt er ein weiteres Diskriminierungsmerkmal. Wer sich nicht mit seinem biologischen Geschlecht identifiziert, hat es in medizinischer Behandlung besonders schwer: dass unsere Vordrucke keine Geschlechterunterscheidung über „weiblich“ und „männlich“ hinaus erlauben, ist das eine, die Unterbringung im „richtigen“ Mehrbettzimmer das andere.

Wer sich wegen einer geschlechtsangleichenden Therapie vorstellt, muss erst entwürdigende Beweise beibringen, dass ersie sich seines*ihres Wunsches wirklich sicher ist.

Gleichzeitig werden viele quer-Menschen in die „Psycho-Ecke“ abgestempelt.

Ethnische

Unter Ethnizität versteht man die Einordnung kultureller Identität und den Versuch, den Begriff Herkunft mit mehreren Dimensionen zu füllen und nicht nur auf das Geburtsland abzuheben. In der Praxis gebräuchliche Floskeln wie „Morbus Bosporus“, „anatolischer Ganzkörperschmerz“ oder „Mama-Mia-Syndrom“ konterkarieren diesen Versuch. Sie sind Ausdruck von tief verankerten Vorurteilen und Beweis für eine mangelnde Sensibilität im Umgang mit kulturellen Unterschieden und Krankheitsvorstellungen.

Die Einordnung erfolgt in ein bestimmtes Behandlungsschema und in eine „Klasse“.

Sprachliche Barrieren, deren Ursache übrigens immer in der Fremdsprache desder Patientin gesehen wird und nie in dem eigenen Unvermögen die Sprache nicht zu sprechen, führen zu einer schlechteren Anamnese und Versorgung.

Bildungsstand

Unserem heutigen Verständnis der Ärztin-Patientin-Beziehung setzt auf Shared-Decision-Making und eine aufgeklärte Einwilligung. Die Aufklärungspraxis ist aber weit davon entfernt, ihrem Ideal gerecht zu werden. Auf der einen Seite wird ihr nicht die nötige Aufmerksamkeit und Sorgfalt zu Teil, auf der anderen setzt sie einen spezifischen Bildungsstand bei den Patientinnen voraus, über den nicht alle verfügen (können).

Wie therapietreu ein*e Patient*in ist, hängt auch von der Einsicht in Notwendigkeiten ab, welche wiederum ein entsprechendes Grundwissen verlangt. Abhängig von der ärztlichen Einschätzung der „Compliance“ des*der Patient*in werden ihm*ihr unterschiedliche Behandlungsoptionen dargeboten.

Hierarchie

Eng mit dem Aspekt des Bildungsstandes ist auch eine hierarchische Dimension verbunden. Patient*innen konsultieren medizinische Einrichtungen, um Rat einzuholen. D.h. sie treten als Bittsteller*innen auf und sind auf einen Wissenstransfer von oben nach unten angewiesen, woraus sich ein hierarchisches Gefälle ergibt. Der Fokus auf Hierarchien lässt weitere „Klassen“ deutlich werden: Das Vorhandensein mehrerer Klassen ist Ausdruck einer (Vor-)Herrschaft. Es gibt die Klasse der Herrschenden, die Ärzt*innen, der eine bzw. mehrere Klassen Beherrschter, das nicht ärztliche Personal und Patient*innen, gegenüberstehen. Diese Klassen lassen sich beliebig ausdifferenzieren.

Mehrfachdiskriminierung

Vielfach werden Menschen aufgrund mehrerer gleichzeitig wirkender Faktoren benachteiligt, sog. Intersektionelle Diskriminierung. Zum Beispiel

  • psychiatrisch Erkrankte, sozial schlechter gestellte Menschen mit niedrigem Bildungsstand
  • auf finanzielle Unterstützung angewiesene Menschen mit Migrationshintergrund, hoher Sprachbarriere und Analphabetismus
  • Kopftuchtragende Frauen

Es sind viele Kombinationen denkbar und – trauriger Weise – alltäglich, weshalb es einmal mehr gerechtfertigt ist, von Vielklassenmedizin zu sprechen und sich für eine gerechtere Versorgung einzusetzen.

/jw